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Schatztruhen der Artenvielfalt

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Alte Apfelbäume im KleingartenFoto: Flora Press/Meyer-Rebentisch, Dr. Karen

Wer einen alten Apfelbaum im Garten hat, weiß: Er trägt Geschichten in seinen Ästen. Vielleicht hat er schon Generationen mit Früchten versorgt. Kinder sind auf ihm geklettert, ein gutes Buch wurde in seinem Schatten gelesen oder ein Nickerchen in der Hängematte gehalten. Vielleicht knarrt er im Wind, trägt Narben von vergan­genen Stürmen und alten Schnittverletzungen. Und vielleicht sieht er aus gärtnerischer Sicht auch nicht mehr „perfekt“ aus, ein Erhalten lohnt sich dennoch.

Genetischer Schatz

Obstbäume machen glücklichFoto: Flora Press/Butz Obstbäume machen glücklich! Alte Apfelbäume tragen oft Sorten, die in modernen Plantagen längst verschwunden sind. Diese traditio­nellen oder regionalen Sorten sind mehr als nur kulinarische Raritäten, sie sind genetische Schatztru­hen. In ihren Erbanlagen steckt eine enorme Vielfalt an Eigenschaften: Widerstandsfähigkeit gegen Krank­heiten, Anpassung an regionale Klimabedingungen, besondere Blühzeiten oder einzigartiger Geschmack. Viele alte Apfelsorten enthalten zudem deutlich we­niger von bestimmten Eiweißverbindungen, die bei empfindlichen Menschen Allergien auslösen können. Aus diesem Grund sind einige alte Apfelsorten für Apfelallergiker oft besser verträglich als viele moder­ne Züchtungen.

In Zeiten des Klimawandels und zunehmender Monokulturen kann diese genetische Vielfalt entscheidend sein, um neue, robuste Sorten zu züchten, die mit Trockenheit, Hitze oder neuen Schad­erregern besser umgehen können. Der Er­halt alter Sorten bedeutet daher nicht nur Bewahrung von Geschichte, sondern Vor­sorge für die Zukunft, Vorsorge für unse­re Ernährungssicherheit und für den Erhalt einer lebendigen Kulturlandschaft.

Spezialgebiet Pomologie

Sämtliches Wissen über Obstbäume und Beerensträucher wird in der Pomologie gewonnen, gesammelt und weitergegeben. Die Pomologie wird auch als „Lehre der Arten und Sorten vom Obst“ bezeichnet und ist eine Mischung aus Botanik, Kulturgeschichte und praktischer Obstbaukunde. Ursprünglich im 18. und 19. Jahrhundert populär geworden, widmet sich die Pomologie nicht nur der systema­tischen Beschreibung und Bestimmung von Apfel-, Birnen-, Kirsch- und anderen Obstsorten, sondern auch deren Erhaltung. Pomologen sammeln, dokumentie­ren und kultivieren traditionelle Sorten, um die enorme Vielfalt zu bewahren, die über Jahrhunderte durch Züchtung, regionale Anpassung und bäuerliche Praxis entstanden ist.

Alte SortenFoto: picture alliance/imageBROKER/Heinz-Dieter Falkenstein Alte Sorten sind ein genetischer Schatz.

Besonders der Apfel (Malus domestica) steht im Zentrum der Pomologie. Er ist wohl das begehrteste Tafelobst der Deut­schen, und allein in Europa gibt es mehrere tausend registrierte Sorten. Das macht ihn zu einem bedeutenden Kulturobjekt und bis heute zu einem prägen­den Element unserer Agrar- und Naturlandschaft. Jede Sorte erzählt ihre eigene Geschichte, vom Hofbaum alter Dorfgärten bis zu Streuobstwiesen oder -alleen, von regionalen Spezialitäten bis zu global bekannten „Bestsellern“ wie ‘Fuji’, ‘Jonagold’ oder ‘Braeburn’.

Heute ist die Pomologie nicht nur ein Instrument zur Erhaltung des kulinarischen Erbes, sondern auch ein Schlüssel zum Naturschutz. Alte Obstbäume, selbst wenn sie kaum noch Ertrag bringen oder sogar bereits starke Schäden aufweisen, sind lebendige Archive dieser Sortenvielfalt und zugleich ökologisch wertvolle Lebensräume. Ihre Erhaltung verbindet den Schutz der genetischen Ressourcen mit dem Bewahren einzigartiger Biotope – ein Brückenschlag zwischen traditioneller Obstbaukunst und moderner Biodiversitätsforschung.

Vom Ertrags- zum Lebensraum

Alte Obstbäume – besonders Hochstämme – bieten Strukturen, die jüngeren Bäu­men schlicht fehlen. Bereits das Rinden­bild ist bei alten Bäumen deutlich grober strukturiert. Die Borke löst sich stellenweise, und es entstehen zahlreiche Spalten und Ritzen. Jede Menge Kleinsttiere finden hier Wohnquartiere und Schutz vor Fressfeinden und Witterung.

Die Krone bei alten Bäumen hat ein beeindruckendes Volumen und ist für sich betrachtet schon ein ganzer Lebensraum. Blätter und Knospen bieten, neben den offensichtlichen Blüten, jede Menge Nahrung für allerlei pflanzenfressende Tierchen. Bei Hochstämmen ist die Krone auch hoch genug und reich verzweigt, sodass Vögel hier einen sicheren Platz zum Nestbau finden oder hoch oben im Baum thronen, um ein Lied zu trällern.

Mit dem Alter sterben dann auch ganze Äste ab, die, wenn sie dort verbleiben dürfen, für viele totholzbewohnende Arten essenziell sind. Vielleicht ist auch aufgrund großer Fruchtlast mal ein Ast angebrochen und weist nun Risse auf, oder alte Schnittwunden, die nicht ganz verheilen, faulen. So entstehen Höhlungen im Stamm oder in dicken Ästen – und gerade in diesem Zustand entfaltet der Baum eine Bedeutung, die weit über die Obsternte hinausgeht: Er wird zu ei­nem Hotspot der Biodiversität.

Höhlungen sind Nist- und Rückzugsraum auch für größere Tiere, wie Vögel, Fledermäuse oder Bilche. Werden diese Baumhöhlen älter, bildet sich am Höhlengrund eine Schicht aus organischem Material, dem sogenannten Mulm. Dieser besteht überwiegend aus verrottetem Holz, aber z.B. auch aus tierischen Hinterlassenschaften und Insektenkadavern. Diese Mulmhöhlen haben oft eine ganz eigene und spezielle Lebensgemeinschaft. Solche Höhlen sollten in ihrem Zustand erhalten bleiben, räumen Sie dort also nicht auf!

An alten Bäumen finden wir immer auch Moose, Flechten und Algen. Diese sitzen auf der Rinde und schädigen den Baum nicht. Sie selbst sind kleine eigenständige Biotope und Grundlage für zahlreiche Arten – etwa für die Raupen des Gelbleib-Flechtenbärchens, die sich von Flechten ernähren, oder für den Moosskorpion, der als Räuber die Pols­ter absucht und u.a. Milben erbeutet.

Selbst holzzersetzende Pilze, die wir vielleicht vorschnell als „schlecht“ einordnen, dienen vielen Arten als Nahrung oder Lebensraum.

All diese Bereiche gelten als Mikrohabitate, und viele sind erst bei älteren Bäumen zu finden. Je mehr solcher Mikrohabitate ein Baum trägt, desto höher ist seine ökologische Wertigkeit. Ein alter Apfelbaum kann gleichzeitig Brutplatz, Nahrungsquelle und Win­terquartier für Dutzende Tierarten sein.

Im Frühling zieht die Apfelblüte eine beeindruckende Vielfalt an Bestäubern an. Hier finden sich zahlreiche Wildbienenarten ein, darunter ganz früh im Jahr die Rostrote Mauerbiene oder die Gehörnte Mauerbiene. Auch Schwebfliegen, Käfer und Schmet­terlinge nutzen den Nektar oder Pollen von Apfelblüten. Jeder Besuch ist ein kleiner Beitrag zur Bestäubung und oft der Beginn einer Nahrungskette, von der im weiteren Verlauf auch wieder Vögel oder Kleinsäuger profitieren.

Die Bestäubung ist letztendlich auch Voraussetzung für eine erfolgreiche Fruchtbildung, und auch von den Früchten profitiert nicht nur unsere Speise­karte. Ob noch am Baum oder als Fallobst, zahlreiche Tierchen laben sich an den süßen Früchten und können noch Energie tanken, bevor der Winter kommt oder sogar noch während der kalten Jahreszeit.

Erhalt wichtiger als Perfektion

Ein Baum mit Schäden mag aus Obstbau-Sicht nicht mehr optimal sein, doch aus Naturschutz-Sicht ist er oft unbezahlbar. Höhlen, Mulm und Pilzbefall, die im Er­werbsobstbau als „Makel“ gelten, sind für viele Tierarten erst der Auslöser, einen Baum zu besiedeln. Mit zunehmendem Alter und Schädigungen nehmen die Dichte und Vielfalt an Mikrohabitaten zu. Das heißt, auch wenn ein alter Apfelbaum nur noch wenige oder gar keine Früchte trägt, erfüllt er eine zentrale Rolle für die Artenvielfalt.

Fördern Sie Biodiversität!

Erhalten statt fällen: Solange keine akute Ver­kehrsgefährdung besteht, sollte ein alter Baum stehen bleiben.
Rückschnitt mit Maß: Beschädigte und auch tote Äste behutsam einkürzen oder abstützen, statt sie radikal zu entfernen.
Fallobst liegen lassen: Nicht alles! Doch im ge­ringen Maße, damit Tiere hier auch im Winter noch Futter finden.
Totholz nutzen: Entfernte Äste im Garten belas­sen und in die Gartengestaltung integrieren.
Neupflanzung: Hochstämme nur dort setzen, wo langfristig genügend Platz ist.
Auf Sorten achten: Auf verschiedene Sorten setzen, damit Veränderungen, z.B. des Klimas, kei­nen Totalausfall verursachen.

Bewahren durch Veredelung

Selbst wenn ein alter Apfelbaum nicht mehr zu retten ist oder sein Leben sichtbar dem Ende zugeht, muss damit nicht auch die Sorte verschwinden. Mit sogenannten Reisern, jungen, aus dem Wurzelstock oder am Stamm bzw. in der Krone austreibenden Schösslingen, lässt sich das genetische Material sichern. Die­se Triebe können abgeschnitten, auf eine passende Unterlage veredelt und so zu einem neuen Baum herangezogen werden. Auf diese Weise bleibt die Genetik des Reisers, und damit die seiner Quelle mit all ihren einzigartigen Eigenschaften, ihrer Widerstandskraft und ihrem Geschmack, erhalten. Selbst wenn der ursprüngliche Baum nicht mehr steht, kann der genetische Schatz auch künftigen Generationen dienen.

Lebendiges Erbe

Ein alter Apfelbaum ist weit mehr als ein Obstlieferant. Er ist Lebensraum, Tankstelle, Kinderstube, Speisekammer und Winterquartier, und das oft alles zugleich. Ihn zu erhalten, ist nicht nur eine Frage der Nostalgie, sondern ein aktiver Beitrag zum Naturschutz.

Obstbäume im KleingartenFoto: allexclusive/Adobe Stock Viele Gärten werden durch knorrige Obstbäume geprägt.

Wer im Garten einen solchen Baum hat, besitzt ein lebendiges Erbe und eine Schatztruhe voller Artenvielfalt, die kein moderner Ersatz so schnell nachbilden kann.

Joschka Meyer
Fachberater des Landesbundes
der Gartenfreunde in Hamburg